Zu Fuß durch Austin – ein ganz anderes Amerika

Austin ist keine typische US-Autostadt: Zu Fuß entdeckt man dort verborgene Welten, lebendige Viertel und überraschende Begegnungen.

Wenn man in Deutschland aufwächst, dann ist das Gehen in der Stadt eine Selbstverständlichkeit. Innenstädte sind kompakt, entstanden aus mittelalterlichen Kernen, mit Fußgängerzonen, Cafés, kleinen Geschäften, Kopfsteinpflaster. Man parkt das Auto am Stadtrand, schlendert durch die Altstadt, trinkt einen Espresso oder ein Bier, erledigt Einkäufe, trifft Bekannte. Gehen gehört zum Leben.

Und dann kommt man nach Amerika. Weite Highways, gigantische Parkplätze, Vororte, in denen man vom Haus zum Auto und vom Auto zum Supermarkt fährt. „Amerikanische Städte sind nicht begehbar“, heißt es dann oft in Europa. Und meistens stimmt das auch. Aber Austin ist anders.

Zwischen Highways und Fußwegen – die Eigenart Austins

Austin ist keine europäische Stadt. Es gibt kein mittelalterliches Zentrum wie in Freiburg, keine geschlossene Altstadt wie in München, keinen Ring wie in Wien. Austin ist amerikanische Moderne pur, weitläufig, durchzogen von breiten Straßen. Aber mitten in dieser Autostadt gibt es kleine Welten, die zu Fuß entdeckt werden wollen.

Abends, wenn die Hitze des Tages nachlässt, wenn die Luft warm, aber erträglich ist, gehe ich los. Keine Hektik, kein Ziel, einfach ein Spaziergang. In Deutschland würde ich durch die Altstadt laufen. In Austin laufe ich durch South Congress, South Lamar, East Austin – und es fühlt sich ganz anders an, aber nicht weniger lebendig.

South Congress – Stiefel, Birkenstocks und Straßenmusik

South Congress ist die Bühne Austins. Hier reiht sich ein Geschäft ans andere, Restaurants, Bars, Straßenmusikanten. Ich erinnere mich, wie ich an einem Abend an Allen’s Boots vorbeiging – diesem fast schon heiligen Ort für Cowboy-Stiefel. Gleich daneben Lucchese und Tecovas, zwei edle Läden, in denen ich mir selbst Stiefel gekauft habe. In Europa hätte ich nie gedacht, dass ich einmal Cowboy-Boots im Schrank habe. Aber in Austin gehört es dazu.

Und dann, ganz unerwartet, ein Stück Heimat: der größte und schönste Birkenstock-Laden, den ich je gesehen habe. Für einen Deutschen fast surreal – hier, im Herzen von Texas.

Während ich weiterging, spielte ein Gitarrist am Straßenrand, Touristen blieben stehen, Einheimische gingen ungerührt vorbei. Ich war weder Tourist noch Einheimischer, aber in diesem Moment fühlte ich mich als Teil von beidem. So macht Austin aus einem Spaziergang ein Erlebnis.

South Lamar – Bier, Gespräche, Zufälle

South Lamar ist weniger touristisch, etwas rauer, ehrlicher. Ich kam einmal nach der Abendmesse mit einem Freund von meiner Kirchengemeinde dort entlang. Wir sprachen über Familie, über Arbeit, über Gott und die Welt. Am Straßenrand eine Tacos-Bude, daneben ein Craft-Beer-Lokal. Wir gingen hinein, bestellten IPAs, saßen zwei Stunden, lachten, redeten weiter.

In Deutschland würde man diesen Weg durch ein Wohnviertel gehen, vielleicht mit Bäckerei, Metzger, Spielplatz. In Austin ist es anders: Bars, Neonlichter, der Duft von Barbecue. Aber die Essenz bleibt: Gehen verbindet.

Downtown – Leere statt Hektik

Wenn man morgens um 9 Uhr durch die Innenstadt von München oder Frankfurt läuft, ist man von Menschen umgeben. Straßenbahnen klingeln, Autos stauen sich, Schüler, Banker, Touristen – ein Strom von Leben.

In Austin dagegen: gespenstische Ruhe. Ich ging an einem Freitagmorgen durch Downtown – fast keine Autos, keine Menschen. Die Hochhäuser standen da wie leere Kulissen. Nur ich, die Sonne, und das Gefühl, eine Stadt ganz für mich allein zu haben.

Abends verwandelt sich dieselbe Gegend. Dann pulsiert das Leben: Bars, Musik, Lachsalven, College-Studenten auf Party-Tour. Austin ist ein Paradox: morgens Stille, abends Ekstase.

East Austin – Murals, Tacos und offene Türen

East Austin ist die Seele der Veränderung. Bunte Murals, Food Trucks, Galerien, kleine Brauereien. Ich war einmal bei einer Vernissage, und auf dem Rückweg winkte mich eine Gruppe von Nachbarn von ihrer Veranda herüber. Wir tranken Bier, redeten über Gott und die Welt – ich, ein Fremder, mittendrin.

In Deutschland wäre so etwas undenkbar. In Köln vielleicht ein „Komm, setz dich zu uns“ im Biergarten, aber selten direkt vor einem privaten Haus. Austin hat diese Offenheit, die man nur zu Fuß erlebt.

Clarksville – kleine Überraschungen

Clarksville liegt westlich von Downtown, ein ruhiges Viertel mit schattigen Straßen und alten Holzhäusern. Ich lief einmal zufällig hinein, ohne Ziel. Da war ein kleines Café, eine Bäckerei, fast unscheinbar. Die Besitzerin bestand darauf, mir ein Stück Pecan Pie gratis zu geben. Wir saßen draußen auf dem Bordstein, lachten, aßen Kuchen. So etwas passiert nur, wenn man läuft.

Mueller – mit dem Enkel im Thinkery

Mueller ist ein geplantes Viertel, aber es funktioniert. Parks, Seen, Spielplätze, Cafés – alles fußläufig. Mein Lieblingsort dort ist das Thinkery, das Kindermuseum. Ich gehe oft mit meinem Enkel hin, wenn ich in Austin bin. Er tobt durch die Wasserspiele, klettert, lernt, staunt. Danach laufen wir gemeinsam durch den Park, holen Eis, schauen den Enten zu.

In Deutschland wären das vielleicht ein Besuch im „Technorama“ oder im Stadtpark. Aber in Austin ist es Mueller: ein Stadtteil, der fürs Gehen gebaut ist.

Bouldin Creek – Flohmärkte und Vinyl-Schätze

Bouldin Creek ist Bohème pur. Cafés, Food Trucks, kleine Märkte. Ich schlenderte dort einmal an einem Samstag und fand einen Flohmarkt. Ein Mann verkaufte Vinylplatten aus alten Milchkisten. Ich kaufte eine abgenutzte Johnny-Cash-Platte und trug sie wie einen Schatz nach Hause. Solche Entdeckungen macht man nur zu Fuß.

East Cesar Chavez – Vergangenheit und Zukunft

East Cesar Chavez ist ein Viertel, in dem die Vergangenheit noch spürbar ist. Mexikanische Bäckereien, kleine Läden, bunte Häuser – und direkt daneben neue Apartments, modern, teuer, glänzend. Ich kaufte mir Pan Dulce bei einer älteren Dame, die seit Jahrzehnten dort backt, und aß es am Flussufer. Der Zucker klebte an den Fingern, die Sonne ging über Downtown unter. Vergangenheit und Zukunft auf demselben Gehweg.

West University – jung und energiegeladen

Im West University District schlägt das Herz der Studenten. Cafés voller Laptops, junge Menschen, Gespräche über Philosophie und Start-ups. Ich traf einmal die Tochter eines Mandanten, Erstsemester Psychologie. Sie sagte: „Ich wollte nicht nach New York. In Austin kann man laufen – und trotzdem atmen.“

In Deutschland erinnert mich West University an Viertel rund um Universitäten – Freiburg, Heidelberg, Münster. Aber in Austin hat es noch diesen texanischen Unterton: warm, entspannt, voller Möglichkeiten.

Der Vergleich mit Deutschland

In Deutschland sind Städte so gebaut, dass man immer laufen kann. Egal ob Freiburg, Heidelberg oder Hamburg – die Straßen sind eng, Plätze voller Leben, Geschäfte und Gastronomie dicht gedrängt. Man geht nicht spazieren, man geht einfach. Es ist Alltag.

In Austin ist das Gehen ein Statement. Man entscheidet sich bewusst dafür, in einer Stadt zu Fuß unterwegs zu sein, die eigentlich für Autos gebaut ist. Und gerade deshalb wird jeder Spaziergang intensiver, bewusster. Es ist nicht Routine, sondern Erlebnis.

Warum das Gehen wichtig ist

Gehen heißt sehen. Wer fährt, rauscht vorbei. Wer geht, erlebt. In Austin habe ich verstanden, dass man auch in einer Stadt, die eigentlich vom Auto dominiert wird, einen eigenen Rhythmus finden kann.

Für mich sind diese Spaziergänge mehr als Bewegung. Sie sind eine Art Kommunion mit der Stadt – mit Fremden, die Freunde werden, mit Kollegen, die beim Bier zu Vertrauten werden, mit meiner Gemeinde, die meine Familie ersetzt, wenn ich fern von meiner eigenen bin.

Fazit

Austin ist nicht Freiburg. Nicht München. Nicht Köln. Aber gerade weil es so anders ist, ist das Gehen hier besonders. Man entdeckt keine gotischen Dome oder Fachwerkhäuser, sondern Cowboystiefel-Läden, Food Trucks, Murals und stille Parks. Und wer bereit ist, zu Fuß zu gehen, entdeckt ein Amerika, das nicht aus Autos und Highways besteht, sondern aus Begegnungen.

Gehen in Austin ist kein Muss. Es ist ein Geschenk.