Deutschamerikaner: Eine vergessene Geschichte

Deutsche sind größte ethnische Gruppe

Deutschstämmige stellen noch heute die größte ethnische bzw. kulturelle Gruppe in den Vereinigten Staaten. Doch ihre Sichtbarkeit beschränkt sich häufig nur mehr auf Nachnamen, Ortsbezeichnungen und Volksfeste. Chinatown, Little Italy, Koreatown oder East Harlem sind uns alle ein Begriff, doch ein Little Germany gibt es offiziell in keiner einzigen amerikanischen Großstadt. Ist die Geschichte der Deutschen in den USA eine Geschichte der Flucht und des Versteckens?

Gleichzeitig aber lassen sich mehrere Phasen eines immensen deutschsprachigen Einflusses auf das amerikanische Englisch beobachten. Noch heute werben Autohersteller mit besonderem „fahrspass“, auf dem Weg zur Arbeit setzt man die Kleinen im „kindergarten“ ab, geht mit dem „dachshund“ spazieren und „bildungsbuerger“ haben selten ein „entscheidungsproblem“, ein „gedankenexperiment“ zum „fraeuleinwunder“ zu wagen. Abends trinkt man gern einen „federweissen“ und frönt der „gemuetlichkeit“. Auch Kaffeeklatsch, Katzenjammer, Realpolitik oder Schadenfreude gehören genauso zum Wortschatz des Amerikaners wie Schutzhund, Schnaps und Sonderweg – der allerdings „zonderweg“ geschrieben wird.

Diesen Sonderweg gingen wohl auch mehrere Millionen Deutschamerikaner, deren Geschichte und Herkunft sich oftmals nur noch anhand ihres Nachnamens ablesen lässt. Andererseits existieren noch heute Dutzende Traditions- und Kulturvereine, die deutsche Bräuche leben, deutsche Bäckereien sprießen aus dem Boden und die zahlreichen Oktoberfeste mit Bier und Schweinestelze sind quer durch die USA ein beliebtes Event. Der maßgebliche Unterschied ist wohl die mitunter stark divergierende politische und gesellschaftliche Entwicklung der Kultur beider Nationen, aber gleichzeitig auch ihre große Ähnlichkeit und der ständige Versuch, sich beim jeweils anderen etwas abzugucken.

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Kulturelle Unterschiede durch die Geschichte

Während der Deutsche klischeehaft als steif, humorlos, konventionell und diszipliniert gilt, sagt man dem Amerikaner nach, er sei kulturlos, oberflächlich und kommerzorientiert. Tatsächlich kommt es immer wieder zu Missverständnissen im Alltag und tatsächlich stehen sich bei der Entstehungsgeschichte dieser Vorurteile klar identifizierbare gesellschaftliche und politische Entwicklungsmuster diametral gegenüber.

Die als Einwanderungsland gegründeten USA verfolgten damit auch immer eine stark individualistische Lebensweise, die die Eigenverantwortung in den Mittelpunkt stellte. Deutschland dagegen, das bis zum Ende des 19. Jahrhunderts kein eigener Nationalstaat war, erschuf sich über die politischen Grenzen hinweg das Gefühl der Einheit durch Kunst, Wissenschaft und Literatur.

Es gibt kein deutsches Pendant der Freiheitsstatue, das die „huddled masses“ an seinen Gestaden willkommen heißt. Die ablehnende Haltung gegenüber der Einwanderung hat aus verschiedenen Gründen in Deutschland nachgelassen – denken wir nur an „Refugees Welcome“. Hierbei mögen Gründe wie das überlastete Rentensystem und die demographische Entwicklung eine Rolle spielen und die Hoffnung, dass irgendwer sprichwörtlich die Zeche zahlt, aber auch tiefsitzende massenpsychologische Komplexe. Während sich in Deutschland Parallelgesellschaften entwickeln, weil die Aufnahmegesellschaft ihre eigene Identität verleugnet, sind die Hürden der Integration in den USA deutlich geringer. Amerikanisierung und Ethnisierung waren stets eng miteinander verknüpft, weshalb ethnische Minderheiten – zumindest europäischstämmige – in Amerika nicht als Minderheiten gelten, sondern als charakteristische Bestandteile des dynamischen und pluralistischen amerikanischen Mosaiks.

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Bildung, Disziplin und Fleiß als deutsche Erfolge

Obgleich die Deutschen die wohl zahlenmäßig größte Gruppe dieses Völkermosaiks bilden, ist ihr Erbe eher subversiver Natur. Viele der überwiegend katholischen Deutschen waren im Vergleich überdurchschnittlich gebildet – Lese- und Rechtschreibkenntnisse waren lange nicht selbstverständlich – und galten aufgrund ihrer Erziehung als besonders diszipliniert.

Denn die Schul- und Gesellschaftsbildung erfolgte in beiden Staaten völlig gegensätzlich. Während in Deutschland jahrhundertelang die allgemeine Schulpflicht galt, war die Stadt New York zu Beginn des 20. Jahrhunderts die einzige amerikanische Gemeinde, die überhaupt über Personal verfügte, die theoretisch existierende Schulpflicht zu überprüfen. Es handelte sich dabei jedoch lediglich vier Beamte.

Somit war auch die Wehrpflicht als „Schule der Nation“ in Amerika lange undenkbar. In Deutschland dagegen schrieb man nach den Einigungskriegen in den 1860er Jahren dem Militär hohe Verdienste um die Schaffung des deutschen Nationalstaats zu und militärische Werte durchdrangen die gesamte Gesellschaft, nachdem alle Staaten die Wehrpflicht übernahmen. Nachdem 1863 gewaltige Aufstände gegen den Wehrdienst New York erschütterten, befand sich Amerika in einem Dilemma: Es bedurfte der Erziehung zur Vaterlandsliebe, insbesondere in den ethnisch gemischten dicht besiedelten Großstädten, damit die Nation von Einwanderern nicht in eine untereinander zerstrittene Stammesgesellschaft zerfällt. Außerdem konnten die deutschen Einwandererkinder allesamt lesen und schreiben, was bei ihren amerikanischen Altersgenossen bis nach dem Zweiten Weltkrieg noch nicht selbstverständlich war. Die Amerikaner betrachteten daher die Wehrpflicht zwar als Tyrannei, die Notwendigkeit einer staatlich finanzierten und verpflichteten Schulbildung befürworteten sie jedoch.

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Konventionen als Identitässtiftung

Das daraus entstandene Bildungsbürgertum als Krone der bürgerlichen Gesellschaft gilt als genuin deutsche Sozialfigur, die Verhaltensweisen, Werte und Tugenden enorm geprägt und in Teilen zum Klischee des konventionsbehafteten Deutschen beigetragen hat.

Die spätere Diffusion der amerikanischen Städte durch die Gründung der Mittelschichts-Suburbs ging zu Lasten des typisch deutschen bürgerlichen Lebensstils, seiner gewissen Steifheit und seinen Konventionen. Während es in Deutschland üblich war, im Anzug einen Sonntagsspaziergang zu unternehmen, dabei klassen- und standesbewusst aufzutreten, sich die habituellen Distinktionsmerkmale von Grußformen und Bekleidungsvorschriften als Ausdruck der bürgerlichen Gesellschaft etablierten, dominierte in den weitläufigen Suburbs am Rande der amerikanischen Großstädte die Formlosigkeit. Allein der Besitz eines der für jedermann erschwinglichen Häuser war Ausdruck des Aufstiegs genug.

Während die katholischen Iren meist vor der bitteren Armut der grünen Insel flohen, sahen sie sich angesichts der protestantischen missionarischen Angelsachsen gegenüber dem alten Feind ausgesetzt, was wiederum den Zusammenhalt stärkte. Auch Italiener, Polen oder im Süden siedelnde Franzosen pflegten eigene Bräuche, besiedelten eigene Stadtviertel und etablierten ihre eigenen kulturellen Traditionen wie Madri Gras, Helloween oder den weltweiten Siegeszug der italienischen Küche. Den Deutschen dagegen gelang es meist schnell, sich zu integrieren und den arbeitsamen Ansprüchen der durch eine protestantische Ethik geprägte Leistungsgesellschaft genügen zu können. Zudem entspricht es schlichtweg nicht dem deutschen Charakter, Bräuche, Feste und Traditionen exponiert auszuleben – wenngleich man heute einen anderen Eindruck bekommen könnte, angesichts des berüchtigten deutschen Massentourismus, aber auch der deutschen Traditionsfeste in Amerika, die inzwischen längst auch zu Massenveranstaltungen geworden sind. So scheint es, dass die Deutschamerikaner in jenem Mosaik mehr aufgegangen sind, als dass sie noch auf den ersten Blick erkennbare Steinchen bilden. Auf den zweiten Blick aber sind viele Landstriche der USA bis heute sichtlich deutsch geprägt – von der Bäckerei über den Gesangsverein bis zur Sprache.

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