Inhalt
Covid hat den schon vor der Pandemie zu beobachtenden Homeschooling-Trend in den USA nochmals befeuert: Das US Census Bureau berichtet, dass sich die Anzahl der Homeschooling-Familien allein zwischen Frühling 2020 und Beginn des neuen Schuljahres im Herbst 2020 verdoppelt hatte und 11,1% aller US-Haushalte ausmachte. Bei den schwarzen Familien hat sich der Anteil laut Census Bureau sogar verfünffacht, von 3,3% im Frühjahr auf 16,1% im Herbst.
Man beachte, dass es sich hierbei nicht um Kinder handelt, die notgedrungen und in Zusammenarbeit mit der Schule während eines Lockdown zu Hause unterrichtet wurden (aber weiterhin bei der Schule angemeldet bleiben). Gemeint sind Familien, die ihre Kinder von der Schule abgemeldet haben und nun eigenverantwortlich unterrichten wollen.
Wie bei vielen pandemiebedingten Veränderungen in der amerikanischen Gesellschaft bleibt dennoch abzuwarten, ob Homeschooling nur eine vorübergehende Randerscheinung darstellt oder ob es sich als fester Bestandteil des Bildungsangebots etabliert. Es gibt gute Gründe dafür, dass letzteres der Fall sein könnte.
Chalkbeat hat in Zusammenarbeit mit der Associated Press berichtet, wie öffentliche Schulbezirke im ganzen Land aus Bedenken vor einem anhaltenden Rückgang der Schülerzahlen nach kreativen Wegen suchen, um Neuanmeldungen zu sichern. Hierzu werden beispielsweise Busfahrer mit dem nötigen Equipment ausgestattet, um Eltern anrufen zu können.
Eine Analyse der New York Times und der Stanford University verglich die Anmeldezahlen für den Herbst 2019 mit 2020 und stellte fest, dass an 10.000 öffentlichen Schulen in 33 Bundesstaaten die Anzahl der Kindergartenkinder um mindestens 20% zurückging. Aus den Berichten geht ebenfalls hervor, dass einige dieser Schulen befürchten, dass sich die Zahlen im Herbst 2021 nicht erholen werden.
Inmitten einer neuen Homeschooling-Ära sind wissenschaftliche Untersuchungen über die Herausforderungen, kulturellen Unterschiede und tatsächlichen Resultate gefragter denn je. Aber obwohl das Interesse an Homeschooling gerade jetzt besonders hoch ist, hat es in den USA seit den 1960er Jahren einen stetigen Aufwärtstrend gegeben.
Fünf Phasen der Entwicklung
Der Weg von einer marginalen Randerscheinung hin zur rechtlichen und kulturellen Akzeptanz verlief nicht ohne Konflikte und Widerstände. Die Bildungswissenschaftler J. Gary Knowles, Stacey E. Marlow und James A. Muchmore zeichnen diese dramatische Entwicklung im American Journal of Education nach und unterteilen die frühen Anfänge des Homeschoolings in den USA in fünf Phasen.
Die Wissenschaftler weisen darauf hin, dass die meisten Kinder jahrhundertelang auf der ganzen Welt von ihren Eltern oder Lehrern zu Hause unterrichtet wurden. Mitte des 18. Jahrhunderts, als in den USA die formale Schulpflicht eingeführt wurde, gab es eine deutliche Verlagerung des Schulunterrichts weg vom Elternhaus. Zwischen 1850 und 1970 unterrichteten nur noch wenige Familien ihre Kinder zu Hause. Doch Mitte der 1960er und Anfang der 1970er Jahre, als sich die Unzufriedenheit mit dem öffentlichen Schulsystem vergrößerte, begann sich auch Homeschooling wieder zu verbreiten.
Damit begann die erste der fünf von den Forschern beschriebenen Phasen: die Phase der „Contention“ bzw. „Auseinandersetzung“. In dieser Phase äußerten Bildungsreformer vermehrt Kritik an der traditionellen Schulbildung. In der breiten Öffentlichkeit fand Homeschooling dennoch wenig Anklang. Homeschooling-Familien wurden als gesellschaftliche Randerscheinung betrachtet:
„In den frühen 1970er Jahren“, so die Autoren, „war die Heimerziehung segmentiert und wurde von der Öffentlichkeit und den Medien in erster Linie als eine subversive Bildungsform angesehen, die von Idealisten, oft heimlich oder im Untergrund, durchgeführt wurde.“ Darüber hinaus war sie in den meisten Staaten illegal.
Die zweite Phase, die „Konfrontation“, begann Anfang der 1970er Jahre und erreichte am Ende des Jahrzehnts ihren Höhepunkt, was einige öffentlichkeitswirksame juristische Auseinandersetzungen mit sich brachte.
Im Jahr 1972 verhandelte der Oberste Gerichtshof das Urteil Wisconsin gegen Yoder, das sich als wegweisend für die Homeschooling-Bewegung erwies und den amischen Eltern das Recht einräumte, ihre Kinder nach der achten Klasse zu Hause zu unterrichten.
In der Entscheidung wurde ausgeführt, dass „das elterliche Interesse religiöser Natur und nicht philosophisch oder persönlich sein muss.“ Dies gab den Anstoß zu einer Reihe von Gerichtsverfahren auf Staatsebene, die sich mit unterschiedlichen Fragen bzgl. der Heimerziehung befassten.
Knowles, Marlow und Muchmore stellen fest, dass zwar die Mehrheit der Gerichtsverfahren von den Schulbehörden ausging, dass aber in den meisten Staaten in den 1970er Jahren die Mehrzahl zugunsten der Eltern entschieden wurde. Dennoch dauerte es bis 1950, bis der Hausunterricht in allen 50 Staaten legal wurde.
Die dritte Phase „Kooperation“ entstand aus der Lockerung rechtlicher Beschränkungen und dem Erlass neuer Richtlinien, die es Homeschooling-Schülern erlaubten, die Einrichtungen der öffentlichen Schulen zu nutzen. Schätzungen zufolge unterrichteten bis 1985 etwa 200.000 US-Familien ihre Kinder zu Hause.
In den frühen 1990er Jahren läuteten Homeschooling-Netzwerke und Lobbyarbeiten die vierte Phase „Konsolidierung“ ein.
Die letzte Phase „Abschottung“ entwickelte sich, als das Homeschooling immer mehr Akzeptanz erhielt und die einstigen „Strange Bedfellows“ – wie die Journalistin Kathleen Cushman es ausdrückte – nicht mehr gezwungen waren, eine gemeinsame Front gegen andere Erzieher zu bilden.
Diese „seltsamen Gesellen“ bestanden aus Familien, die durch religiöse Überzeugungen, pädagogische Ideale, aus familiären Gründen und durch eine Vielzahl anderer, sich überschneidender Gründe motiviert waren.
Ein weiterer Grund, der insbesondere schwarze Familien motivierte, bestand darin, ihre Kinder vor dem allgegenwärtigen Rassismus im schulischen Umfeld zu schützen.
Die Beweggründe der Eltern
Die Forscher Oz Guterman und Ari Neuman haben 62 Homeschooling-Eltern in Israel Fragebögen vorgelegt. Anhand der Antworten teilten sie die Eltern in zwei Gruppen ein:
Die Beweggründe einer Gruppe waren rein pädagogischer Natur. Das bedeutet, es ging hauptsächlich um die Kontrolle des Lehrplans und die Besorgnis über ein niedriges Bildungsniveau an Schulen.
Die Beweggründe der zweiten Gruppe hatten sowohl pädagogische als auch familiäre Ursachen. Hier bestand der Wunsch, starke Beziehungen innerhalb der Familie zu fördern, manchmal auch in Verbindung mit den gesundheitlichen Bedürfnissen der Kinder.
In ihrem Artikel in der International Review of Education „Different Reasons for One Significant Choice: Factors Influencing Homeschool Choice in Israel“ werden die Ergebnisse aufgeführt.
Wie sich herausstellte, schätzen Familien, die sich sowohl aus pädagogischen als auch aus familiären Gründen für den Heimunterricht entschieden, die Auswirkungen auf ihre Kinder positiver ein als die Familien, die sich nur aus pädagogischen Gründen entscheiden.
Es kann angenommen werden, dass Familien, die sich aus familiären Gründen entscheiden, mehr Zeit für andere Aktivitäten aufwenden, wie z.B. Familienausflüge, gemeinsames Kochen, etc. Die beiden Gruppen haben möglicherweise auch unterschiedliche Auffassungen, was das Lernen angeht.
Die Forscher fanden zudem heraus, dass Eltern, deren Motivation streng pädagogisch ist, mehr Stunden pro Woche für den Lernaufwand ihrer Kinder aufwenden.
Die Herangehensweise der Eltern kann auch mit ihren eigenen Burnout-Erfahrungen zusammenhängen, meint die Forscherin Jennifer Lois. In ihrem Artikel in Symbolic Interaction untersuchte sie, wie sich Homeschooling-Mütter auf ihre Rolle einstellen.
Die Forscherin stellte fest, dass der Spagat zwischen Lehrerrolle und den verschiedenen anderen elterlichen und häuslichen Pflichten schnell zur Überforderung wird. In ihrer ethnografischen Studie über eine Homeschooling-Selbsthilfegruppe und in Interviews mit über 24 Müttern im pazifischen Nordwesten fand sie heraus, dass spezielle Arten von „Emotionsarbeit“ Homeschooling-Müttern dabei helfen können, Burnout zu reduzieren und sogar zu überwinden.
Die Autorin kommt zu dem Schluss, dass die Mütter, die ein Burnout überwanden oder vermeiden konnten, dies durch eine sogenannte „Role Harmony“ erreichen konnten.
Rollenharmonie bedeutet, dass Mütter verschiedene Rollen miteinander verbinden und priorisieren können. Zum einen hatte die Mutterrolle Vorrang vor der Hausfrauenrolle, sodass die Hausarbeit zugunsten der Kinder heruntergeschraubt wurde.
Zum anderen neigten Mütter ebenfalls dazu, ihre Lehrplanstruktur zu lockern und ihren Kindern mehr Möglichkeiten zum selbstständigen Lernen einzuräumen, indem eine Vermittlerrolle eingenommen wurde. Wichtig ist auch, dass Hausfrauen, die ein Burnout überwinden konnten, fast immer einen Partner an ihrer Seite hatten, der sie bei der Hausarbeit, der Kinderbetreuung und dem Unterricht unterstützt hatte.
Wie wirkt sich Homeschooling auf Kinder aus?
Wie wirkt sich der Heimunterricht auf die Kinder aus? Auch auf diese Frage haben viele Forscher eine Antwort gesucht.
In einem Artikel im International Social Science Review ließen die Erziehungswissenschaftler Cynthia K. Drenovsky und Isaiah Cohen 185 College-Studenten einen Fragebogen ausfüllen: 35 wurden traditionell unterrichtet während 150 mindestens ein Jahr lang zu Hause unterrichtet wurden.
Mit dem Fragebogen sollte das Engagement auf dem Campus (z.B. durch die Teilnahme an Praktika und Forschungsarbeiten zwischen Studenten und Dozenten) sowie ihr Selbstwertgefühl und die von ihnen selbst angegebenen Symptome einer Depression ermittelt werden.
Die Forscher fanden heraus, dass sich das Selbstwertgefühl zwar nicht signifikant unterschied, dass aber die zu Hause unterrichteten Studenten niedrigere Depressionswerte und höhere Studienerfolge aufwiesen. Außerdem bewerteten sie ihre gesamte Bildungserfahrung tendenziell positiver.
In „Differences in Competence, Autonomy, and Relatedness between Home Educated and Traditionally Educated Young Adults“ (zu Deutsch: Unterschiede in Kompetenz, Autonomie und Verbundenheit zwischen zu Hause unterrichteten und traditionell unterrichteten jungen Erwachsenen) betrachtet die Schulpsychologin Gina Riley die Homeschooling-Ergebnisse aus einem etwas anderen Blickwinkel.
Die Psychologin schaut hierbei vornehmlich auf die „sozialen und umweltbedingten Faktoren, die die intrinsische Motivation eher fördern als untergraben“, und verweist auf drei psychologische Bedürfnisse, die zur Förderung der Selbstmotivation beitragen:
- Kompetenz: das Bedürfnis, ein Problem erfolgreich zu lösen oder etwas herauszufinden;
- Autonomie: das Bedürfnis nach Entscheidungsfreiheit und Selbstbestimmung; und
- Verbundenheit: das Bedürfnis nach einem Gefühl der Verbundenheit mit anderen in der Lernumgebung.
Riley wollte herausfinden, ob die Bedürfnisse nach Kompetenz, Autonomie und Verbundenheit bei jungen Erwachsenen, die zu Hause unterrichtet wurden, besser befriedigt wurden als bei Gleichaltrigen, die eine traditionelle Schule besuchten.
Zu diesem Zweck wandte sie die Skala der psychologischen Grundbedürfnisse bei 58 Schülern mit Heimunterricht und 41 Schülern mit traditioneller Schulbildung an. Ihre Ergebnisse deuten darauf hin, dass Schüler, die zu Hause unterrichtet wurden, im Durchschnitt zufriedener mit ihrer Autonomie und ihrer Kompetenz sind, während es in puncto Verbundenheit keine Unterschiede gab.
Angesichts der steigenden Popularität des Homeschoolings sind diese Ergebnisse ermutigend. Es sollten dennoch darauf hingewiesen werden, dass Kinder, die zu Hause unterrichtet werden, in gewisser Hinsicht zu einer privilegierten Gruppe gehören.
Viele Forscher haben festgestellt, dass Homeschooling-Eltern in der Regel ein höheres Bildungs- und Einkommensniveau als der Durchschnitt aufweisen und darüber hinaus ein starkes Engagement für die Bildung ihrer Kinder mitbringen.