Gemische Gefühle bei der wirtschaftlichen Erholung
Trotz der erstaunlich positiven Entwicklung des BIP lohnt sich ein genauerer Blick auf die US-Wirtschaft. In vielen Bereichen entscheidet die Perspektive, ob das Glas halb leer oder halb voll ist.
Wenn es ein einziges Wort gibt, das beschreibt, wie die Amerikaner über ihre Wirtschaft denken, wäre es wohl mittelmäßig. In den zwei Jahren vor dem Ausbruch von Covid-19 waren die US-Verbraucher der Meinung, dass es ihnen ziemlich gut ging. Etwa ein Jahr lang, ab März 2020, empfanden sie eine schlechte Wirtschaft. Seit einigen Monaten weisen die Umfragedaten ein gemischtes Ergebnis aus, eine gleichmäßigen Verteilung zwischen positiven und negativen Ansichten.
Im weltweiten Vergleich hat sich die US-Wirtschaft schnell erholt. Doch während die Daten zur Erholung weiter positiv sind, gibt es viele Hinweise darauf, dass das Glas halb leer ist. Die Verbraucherstimmung fiel Anfang August auf den niedrigsten Stand seit fast einem Jahrzehnt. Der letzte Bericht über die Einzelhandelsumsätze, der am Dienstag veröffentlicht wird, könnte trotzdem eine starke Nachfrage seitens der Käufer zeigen.
Viele Arbeitsplätze, viele Arbeitslose
Die Wirtschaft hat in rasantem Tempo neue Arbeitsplätze geschaffen. Obwohl die Gesamtzahl der arbeitenden Amerikaner immer noch mehr als 5 Millionen unter dem Niveau von 2019 liegt, gibt es offene Stellen. Im Juni stiegen diese auf einen Rekordwert von über zehn Millionen.
Viele Arbeitgeber geben an, Schwierigkeiten zu haben diese Stellen zu besetzen, selbst wenn die Arbeitslosenquote immer noch relativ hoch ist. Dies deutet auf ein großes Fragezeichen in Bezug auf den Aufschwung hin. Viele Amerikaner sind aus dem Erwerbsleben ausgeschieden, sei es aufgrund von Frühverrentungen, Schwierigkeiten bei der Kinderbetreuung oder psychischen Problemen.
Die geografische Lage kann zu diesem Missverhältnis beitragen, da viele Amerikaner während der Pandemie umgezogen sind. Arbeitskräfte befinden sich möglicherweise nicht an den Orten, an denen sie gebraucht werden.
Steigende Preise, steigende Einkommen
Die Inflation lag in den letzten drei Monaten bei über 5 Prozent, dem höchsten Wert seit mehr als zehn Jahren. Es entstehen Diskussionen, ob es sich dabei um ein vorübergehendes Problem handelt.
Ein Großteil des Anstiegs ist auf Engpässe in der Versorgungskette zurückzuführen, die durch die rasche Wiederbelebung der Wirtschaft verursacht wurden. Diese Einflüsse dürften mit der Zeit abklingen. Dennoch belasten die steigenden Preise für Grundnahrungsmittel die Haushaltsbudgets. Der Druck würde sich verstärken, wenn es zu einem Anstieg der Wohnungsmieten kommt. Einige Indikatoren deuten darauf hin.
Höhere Haushaltseinkommen als vor der Pandemie
Auch unter Berücksichtigung der höheren Inflationsrate sind die Haushaltseinkommen seit dem ersten Auftreten von Covid-19 über dem Niveau vor der Pandemie. Dies ist eine der bemerkenswertesten aktuellen Wirtschaftsstatistiken. Die beispiellosen Konjunkturprogramme der Regierung sind die Ursache, sie laufen allerdings im September aus.
Millionen von Amerikanern haben als Folge der Pandemie eine Lohnerhöhung erhalten. In ihrer Eile, wieder zu öffnen, haben die Unternehmen höhere Löhne, einmalige Prämien oder beides angeboten. Die Löhne sind in den meisten Branchen allerdings weniger gestiegen als die Verbraucherpreise. Eine wichtige Ausnahme bildet das Freizeit- und Gaststättengewerbe, ein bedeutender Arbeitgeber für Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor.
Die kommenden Monate werden zeigen, ob die Arbeitnehmer genug Einfluss haben, um Lohnerhöhungen durchzusetzen, die den Anstieg der Lebenshaltungskosten decken oder gar übertreffen.
Gemischte Aussichten
Mit der Ausbreitung der Covid-Delta-Variante verschlechterte sich die Stimmung der Verbraucher im August ebenso wie die Erwartungen für die nahe Zukunft. Die Amerikaner scheinen aktuell weit davon entfernt ihren vor der Pandemie herrschenden Optimismus wiederzuerlangen.
Dabei sieht von außen betrachtet eine mittelmäßige Wirtschaft ziemlich gut aus. Das Bruttoinlandsprodukt hat bereits wieder das Vor-Pandemie-Level erreicht. Und in seinen jüngsten Prognosen hat der Internationale Währungsfonds seine Wachstumsaussichten für die USA deutlich nach oben korrigiert.