Deutschamerikaner: Die stille Minderheit

Die größte ethnische Gruppe in den USA hat sich so gut integriert, dass sie kaum wahrgenommen wird

Auf einem schneebedeckten Steilhang mit Blick auf den Fluss Sheboygan steht das Wälderhaus, ein originalgetreuer Nachbau eines österreichischen Landhauses. Es wurde 1920 von der Familie Kohler aus Wisconsin gebaut, um dem Heimatland ihres Vaters, John Michael Kohler, Tribut zu zollen. Dieser immigrierte 1854 im Alter von 10 Jahren in die USA.

John Michael zog nach Sheboygan, heiratete die Tochter eines anderen deutschen Immigranten, der die hiesige Gießerei besaß, und übernahm das Geschäft seines Schwiegervaters. Er verwandelte es von einem Hersteller von Pflugscharen zu einem Sanitärbetrieb. Heute ist Kohler der größte Hersteller von Badezimmereinrichtungen in Amerika. Herbert Kohler, der Chef (und Enkel des Gründers) war so erfolgreich damit, Badewannen zu verkaufen, dass er seiner anderen Leidenschaft, dem Golf, im großen Stil nachgehen konnte. Die Kohler Company besitzt Whistling Straits, den Kurs, wo 2020 der Ryder Cup ausgetragen wird.

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Wenig sichtbar, trotz starker Präsenz

Deutschamerikaner sind Amerikas größte einzelne ethnische Gruppe (wenn man die Hispanoamerikaner in mexikanische Amerikaner, kubanische Amerikaner usw. unterteilt). Nach der US-amerikanischen Volkszählungsbehörde beanspruchten 46 Millionen Amerikaner für sich, deutscher Abstammung zu sein. Damit übersteigt es die Zahl der Personen mit Wurzeln in Irland (33 Millionen) oder England (25 Millionen).

In den Gebieten im Norden der Vereinigten Staaten von Amerika waren die Deutschamerikaner allen anderen Gruppen zahlenmäßig überlegen. 41% der Menschen aus Wisconsin sind deutscher Abstammung.

Trotz ihrer Zahl werden sie kaum wahrgenommen. Jeder weiß, dass Michael Dukakis griechischer Amerikaner ist, dass der Kennedy Clan aus Irland stammt und dass Mario Cuomo Italoamerikaner war. Es ist weniger Leuten bewusst, dass John Boehner, der ehemalige Sprecher des Repräsentantenhauses, und Rand Raul, Senator aus Kentucky mit Ambitionen auf die Präsidentschaft, deutscher Abstammung sind.

Unternehmen, die von Deutschamerikanern gegründet wurden, neigen auch dazu, ihre Wurzeln herunterzuspielen: Denken Sie an Pfizer, Boeing, Steinway, Levi Strauss oder Heinz. Auf ihren Websites steht vielleicht irgendwo versteckt, dass „Steinway & Sons 1853 in einem Loft auf der Varick Street in Manhattan vom deutschen Einwanderer Henry Engelhard Steinway gegründet wurde“. Allerdings sind Unternehmen, die ihre deutsche Geschichte hochspielen, so wie es Kohler in einem Kurzfilm am Wälderhaus macht, selten.

Deutsche Einwanderer haben die amerikanische Kultur geprägt, wie der Zimt den Apfelkuchen. Sie importierten Weihnachtsbäume und Osterhasen und erreichten, dass Amerikaner einen Geschmack für Bretzel, Wiener Würstchen, Bratwurst und Sauerkraut entwickelten. Sie bauten lutherische Kirchen, wo immer sie auch hingingen. Die Deutschen in Wisconsin gründeten den ersten amerikanischen Kindergarten und riefen in Milwaukee, Cincinnati und anderen Städten Turnvereine ins Leben.

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Woher kamen die Deutschen?

Nach einer gescheiterten Revolution im Jahr 1848 in Deutschland machten sich desillusionierte Revolutionäre in Richtung Amerika aus dem Staub und verbreiteten fortschrittliche Ideen. „Germanismus, Sozialismus und Bier macht Milwaukee so anders“, sagt John Gurda, ein Historiker. Milwaukee ist die einzige große Stadt Amerikas, die für mehrere Jahrzehnte sozialdemokratische Bürgermeister hatte, von denen zwei, Emil Seidel und Frank Zeidler, deutscher Abstammung waren.

Wie in so vielen anderen Ländern, wo sich Deutsche niedergelassen haben, haben sie den Brauhandel beherrscht. Bierbarone, wie Jacob Best, Joseph Schlitz, Frederick Pabst und Frederick Miller, haben Milwaukee zu der Stadt gemacht, die fast gezwungenermaßen ihr Baseballteam „The Brewers“ (englisch für: die Brauer) nennen musste.

„Die Deutschen waren nicht Teil der kolonialen Aristokratie“, sagt Rüdiger Lentz, Leiter des Aspen Instituts Deutschland. Viele italienische und polnische Einwanderer gehörten der Mittelschicht an und wurden schnell politisch aktiv. Deutsche Einwanderer waren oft arme Bauern, weswegen es sie zu den weiten fruchtbaren Gegenden des Mittelwestens verschlug. „Die Italiener stürmten die Rathäuser; die Deutschen stürmten die Bierhallen“, lautete das Sprichwort.

Während des ersten Weltkrieges entwickelten Teile Amerikas eine extreme Abneigung gegen die Deutschen. Manche Deutsche wurden auf den Straßen angespuckt. In den Schulen wurde der Deutschunterricht verboten. Sauerkraut wurde in „Liberty Cabbage“ umbenannt. Deutsche Bücher wurden verbrannt, Dackel getreten und Deutschamerikaner wurden gezwungen, Kriegsanleihen zu kaufen, um ihren Patriotismus unter Beweis zu stellen.

Als sich New Ulm, eine überwiegend deutsche Stadt in Minnesota, weigerte, ihre jungen Männer in den Krieg zu schicken, wurde die Nationalgarde dorthin versandt. Nach dem Krieg haben die Deutschamerikaner ihren Kopf eingezogen. Viele haben aufgehört, Deutsch zu sprechen und anglisierten ihre Namen.

Während des zweiten Weltkriegs gab es eine weniger anti-deutsche Hysterie, obwohl einige 10.000 Deutschamerikaner als feindliche Ausländer gefangen genommen wurden. Präsident Franklin Roosevelt ernannte unübersehbar Militärbefehlshaber mit Namen wie Eisenhower und Nimitz, um die Achsenmächte zu bekämpfen. Der Holocaust war jedoch ein weiterer Grund für die Deutschamerikaner, ihre Herkunft zu verbergen.

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Auch heute überdurchschnittlich erfolgreich

Heutzutage sind Deutschamerikaner ziemlich erfolgreich. Ihr durchschnittliches Einkommen pro Haushalt beläuft sich auf 61.500 US-Dollar und liegt 15% über der nationalen Norm. Sie haben eher einen Universitätsabschluss als andere Amerikaner und sind weniger von Arbeitslosigkeit betroffen. Und 97% von ihnen sprechen nur Englisch zu Hause.

Sie haben sich ohne jegliche politische Hilfe, die speziell für ihre ethnische Gruppe gedacht war, integriert und sind generell erfolgreich. „Die Griechen und Iren haben ein viel stärkeres Unterstützungsnetzwerk und mehr einflussreiche Lobbygruppen als wir“, sagt Peter Wittig, Deutschlands Botschafter in Amerika. Bis 2010 gab es keine deutschamerikanischen Kongressausschüsse. Allerdings gab es Ausschüsse für Kartoffeln, Fahrräder und albanische Angelegenheiten. Der deutsche Ausschuss ist schnell auf etwa 100 Mitglieder angewachsen, die sowohl für den Handel und Investitionen als auch die Erhaltung ihres gemeinsamen kulturellen Erbes Lobbyarbeit betreiben.

Im Jahr 2010 wurde in Washington DC ein kleines Museum zum deutschamerikanischen Erbe eröffnet. „Deutschland war noch nie so beliebt wie jetzt“, sagt Petra Schürmann, die Museumsleiterin. Deutsche Feste und Oktoberfeste schießen überall im Land aus dem Boden und dabei dreht sich nicht nur alles um Bratwürste und Bier sondern auch darum, Ahnenforschung zu betreiben und traditionelle Kleidung und Kunsthandwerke zu zeigen. Von Deutschen hergestellte Dinge lassen sich gut verkaufen. Und Amerikaner fahren in Massen nach Deutschland: die Jungen zum hippen Berlin und die Älteren zum schönen Heidelberg.

Am 9. Februar 2015 traf die deutsche Kanzlerin Angela Merkel Präsident Obama im Weißen Haus. Sie haben über den Krieg in der Ukraine, den transatlantischen Handel, die wackelnde Eurozone und über den bevorstehenden G7-Gipfel in Bayern gesprochen. Im Gegensatz zu den indischen Amerikanern, die aufgrund des Besuches ihres neuen Premierministers in Amerika ganz aus dem Häuschen waren, nahmen die Deutschamerikaner es kaum wahr.

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